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Der kleine Junge und der alte Mann am Strand

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Da kreuzen sich ihre Wege, nur einen klitzekleinen Augenblick. Der alte Mann, der so viele Jahre, so vieles, hinter sich hat. Was hat er wohl alles erlebt? Er, der er mit seiner Gehhilfe langsam seinen Spaziergang über den vom Wind umbrausten Nordseestrand macht. Er, der er so vieles gesehen haben wird. So viel Freud, aber auch so viel Leid.
Stand er im Krieg? Hat er den Menschen im nacktesten Elend kennengelernt? Sah er den besten Freund, den treuen Kameraden sterben? Hat er gar selbst töten müssen, in einer Zeit in der keine Wahl blieb? Hat er die Schrecken der Gefangenschaft erleiden müssen? Bestimmt mindestens eines davon, vielleicht gar alles…
Hat er geliebt? Liebt er vielleicht immer noch? Bestimmt wird er lieben! Was wird er wohl alles erfahren haben über das Leben, über die Welt, über Gefühle, über Menschen, über so vieles…
Ich bin mir sicher, eines Tages wird er auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Er, der alte Mann am Strand, der er fast mitleiderregend seine langsamen Schritte macht…
Und da, der andere. Ein kleiner Junge, eineinhalb Jahre, vielleicht jünger, bestimmt sogar. Lachend, strahlend, frei und voller Entdeckungstrieb. Ein strahlendes Lachen, einem Engel gleich…
Unbekümmert läuft er seine ersten Meter am Strand, das lange goldene Kinderhaar vom Küstenwind zerzaust. Nichts um ihn herum registrierend, einfach geradeaus. Wie einem Ziel entgegen, dabei hat sein staunendes Kinderauge keines auserkoren. Bestaunt es doch einfach nur die ihm so neue Welt. Was wird er wohl alles zu erzählen haben? Von dem was er alles noch erleben wird, was er sehen wird…
Von der Zukunft, die noch niemand sah. Von Dingen die der alte Mann nie sehen wird, geschweigedenn, dass er es sich vorzustellen vermag. Was wird es alles sein, welch gute, welch schlechte Dinge?
Und dann dieser eine Moment…
Da kreuzen sich ihre Wege. Plötzlich steht der kleine Abenteurer still und der alte Mann macht Halt. Ihre Blicke treffen sich, nur zwei, vielleicht drei Sekunden. Der alte Mann zufrieden lächelnd, voller Herzenswärme. Der kleine Junge, ruhig ausharrend, mit staunendem Blick, dem alten Mann in’s Gesicht schauend…
Keine Worte, keine Geste. Aber diesen kurzen Augenblick schienen sie sich vielleicht mehr gesagt zu haben als es tausend Worte vermocht hätten. Vielleicht sehen sie sich niemals wieder, vielleicht treffen sie sich aber auch eines Tages an einem anderen Ort, fern unserer Vorstellungskraft und haben Zeit sich alles zu erzählen…
Dann trennen sich nach diesem Augenzwinkern ihre Wege, als wäre nie etwas geschehen. Aber für diesen kurzen Moment stand die Welt still…
Nur eine Randnotiz an einem Ort, an dem sich an diesem Tage tausende Menschen tummelten, aber wie ich finde…

…eine schöne!

(aus meinem Nordseeurlaub im Sommer 2020)